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auf dem alphubel (wallis/schweiz, 4206 m)
[für yildiz]



(17.07.1986)

es ist noch stockfinster, als ich gegen 3 uhr vom zeltplatz in saas-grund, auf 1600 m meereshöhe gelegen, aufbreche. wie fast immer alleine. der himmel ist sternenklar, die von den gletschern herunterströmende luft eisig. ich schleiche durch das nachtschwarze saas-fee. kein geräusch ist zu hören, nur die aneinanderschlagenden steigeisen am rucksack begleiten meinen gang rhythmisch mit metallenem scheppern. wie ein traumwandler komme ich mir vor in den engen gassen, die am tage von kamerabewaffneten, sonnenbebrillten touristenströmen überflutet werden und wo es nach sonnencremes und deodorants aller schattierungen riecht.

am dorfende erleuchtet das nachtlicht der nahen seilbahnstation spärlich meinen weg. doch als ich dort ankomme, bin ich zum warten verurteilt: es ist noch so dunkel, daß der pfad nicht zu erkennen ist, der sich zur bergsteigerhütte "längfluh" in 2800 m höhe emporwindet. schon sehr weit oben sehe ich zwei seilschaften mit stirnlampen, die sich unendlich langsam in serpentinen den steilen berghang hocharbeiten, glühwürmchen gleich.

jetzt schon etwas unter mir die lichter von saas-fee. müde und schlaftrunken liegt das dorf im talkessel, still atmend. ich schaue in den sternenhimmel, sehe hin und wieder sternschnuppen pfeilschnell aufleuchten und am ende der lichtspur wieder verglühen.

dann endlich haben sich die augen soweit an die dunkelheit gewöhnt, daß die umrisse des bergpfades zu ahnen sind. es ist 4 uhr, als ich meinen aufstieg fortsetze. zuerst geht es sanft ansteigend, dann allmählich steiler hinauf. der steig wird immer steiniger und schmaler, windet sich in vielen kehren immer höher und höher. ich muß mich konzentrieren, um nicht zu stolpern.

in der morgendämmerung komme ich auf der "längfluh" an. vor der hütte ein paar seilschaften im aufbruch. ein großartiges panorama belohnt den mühsamen aufstieg: die aufgehende sonne läßt gletscher und gipfel ringsumher in einem zarten rosa aufleuchten. die eishaube des allalinhorns, zum greifen nahe; majestätisch erhebt sich vor mir der breite firnrücken des alphubels, schneeweiß über dem wildzerrissenen feegletscher thronend; rechter hand wachsen die steilen, schroffen und abweisenden felswände von täschhorn und dom in den himmel.

langsam erblüht der tag. ich betrete den sich steil vor mir aufbäumenden gletscher, steige anfangs in tiefem firn, später im eis höher und höher, über schneebrücken, die sich über bodenlose schlünde und abgründe spannen und nur wenig vertrauen einzuflößen vermögen. das eis kracht unter den steigeisen. allmählich muß ich mich öfter auf meinen eispickel stützen und verschnaufen. immer höher arbeite ich mich empor, dem blauen äther entgegen, der mir die luft nimmt, die letzten kraftreserven aus dem körper zieht, mich immer wieder in die knie zwingt, mir den puls rasend macht.
ich gehe, steige, unendlich langsam, bis zur totalen erschöpfung, jeden knochen und jeden muskel spürend.

die letzten höhenmeter werden zur qual. mehrmals stolpere ich, richte mich mit äußerster kraftanstrengung wieder auf. ich möchte am liebsten einfach liegenbleiben. jeder weitere schritt dem gipfel entgegen, der jetzt so nahe scheint, schmerzt, verlangt eine fast unmenschliche willensanstrengung. ich spüre, daß die luft dünn geworden ist, der atem wird immer schneller und flacher.
so schleppe ich mich immer höher hinauf, aber das steigen scheint kein ende nehmen zu wollen.

irgendwann, nach einer ewigkeit, geht es plötzlich nicht mehr höher, ich kann es nicht glauben:
ich bin am ziel.

endlich oben. einsam hoch. allein. ich sitze wie entrückt in einer anderen welt. diese hat mit der da unten nicht mehr viel gemein. der blick, der sich mir auftut, berauscht, macht trunken, entschädigt tausendmal für die schinderei:
die ganze schönheit und erhabenheit der schöpfung liegt ausgebreitet vor meinen augen. nur der blick aus einem flugzeug oder einem raumschiff mag noch schöner sein.
unbeschreiblich. überwältigend.
innen und außen: die grenzen scheinen auf einmal nicht mehr zu existieren. ich bin eins mit der mich umgebenden natur, bin berg, wolke, schnee.

wenn ich zurückkomme, werde ich nicht mehr derselbe sein...