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unterwegs zum nemrut dagi
(türkei 1988)

seit stunden sind wir unterwegs zum nemrut dagi. der jeep donnert über den schotter, eine staubfahne hinter sich herziehend. dann, hinter einer kurve, ein schmutziges bergdorf, ein paar steinhütten nur, frauen in bunten kleidern davor, stampfen getreidekörner in einem steinmörser,
kinder in zerlumpten fetzen laufen uns winkend entgegen,
ein mädchen mit seinem kleinen geschwisterchen an der hand, fragt uns nach "seker? pencil? t-shirt?". diese fröhlichen, erwartungsvollen großen kinderaugen,
die zerlumpten kleider, die verfilzten, verlausten schwarzen haare, die zerschundenen füße ohne schuhe, der schmutz,
die armut,
diese himmelschreiende armut, und wir haben vergessen, an seker und pencils zu denken. wir versuchen unser bedauern auszudrücken, daß wir nichts haben.
ein junge fragt uns: "nemrut?" "evet".
hier fahren alle nur durch zum nemrut und hinterlassen außer einer staubwolke, die sich nach wenigen minuten wieder legt,
nichts
und doch
etwas muß zurückbleiben nach dem kurzen zusammenprall zweier welten,
vielleicht nur eine frage
oder auch eine
anklage.
wir fragen die kinder nach ihren namen:
mehmet, zeynep, saliha, gönül, yildiz.
yildiz heißt stern. lauter kleine sterne, die auf eine schmutzige erde gefallen sind. lange betrachte ich die hübschen, ausdrucksstarken gesichter dieser kleinen sterne. jetzt ein paar bilder machen, die kamera liegt griffbereit. das sind doch die motive, hinter denen man her ist, die, die wirklich etwas aussagen...
ich bringe es nicht fertig. so wird es mir noch öfter ergehen, das weiß ich jetzt.
"allaha ismarladik", wünschen wir den kindern. "güle, güle", schallt es fröhlich zurück. fünf kleine sterne winken uns nach, bis wir hinter einer kurve verschwinden.
der jeep donnert weiter über den schotter, staub wirbelt auf, es ist heiß. tüdanya singt mit melancholischer stimme von einer enttäuschten liebe, vom schmerz und von der verzweiflung.
ja.
schmerz
und verzweiflung.
aber warum waren die augen der kinder so fröhlich, so scheinbar grundlos fröhlich?
die frage beschäftigt uns noch lange
unterwegs
zum nemrut dagi.

viele eindrücke
werden mit der zeit verblassen.
zeynep, mehmet, gönül, saliha,
yildiz
sie werden mir
lange
in erinnerung bleiben.